Liberalität

Liberale Freimaurerei – ein Oxymoron?

Dem Menschen, dem Individuum, das im Zentrum der liberalen Philosophie steht, soll größtmögliche Freiheit gegeben werden. Die individuelle Freiheit ist nach liberaler Überzeugung die Grundnorm der menschlichen Gesellschaft, also auch der freimaurerischen Gemeinschaft.

Ist liberale Freimaurerei  ein Widerspruch in sich selbst?

Lasst  uns die Definition von liberaler Freimaurerei einer Prüfung unterziehen:

Wie so häufig (besonders in unserer Zeit) ist nachlässiger Sprachgebrauch ein gewichtiger Einflussfaktor, daher seien einige Definitionen vorangestellt:

Ein Oxymoron (aus griechisch oxys –scharf (sinnig) und moros –dumm) oder contradictio in adiecto bedeutet allgemein Widerspruch in sich und bezeichnet einerseits eine rhetorische Figur, die einander widersprechende Wörter miteinander kombiniert oder eine logische Aussage, die sich selbst widerspricht. Vielzitiertes Beispiel ist der Kreter Epimenides, der sagte: „Alle Kreter sind Lügner.“

Der Liberalismus (vom lateinischen liber – frei und liberalis – die Freiheit betreffend, freiheitlich) ist eine in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, zur Zeit der Aufklärung entstandene freiheitliche Gesinnung und politisch-philosophische Lehre. Der Liberalismus begründete die Emanzipation (Befreiung) von Feudalismus und Absolutismus, von überlieferten Dogmen, welche Unfreiheit rechtfertigen sollten (beispielsweise das Gottesgnadentum als Legitimierung der monarchischen Herrschaftsansprüche, von wo es  gedanklich weitergeht zu „Einheit von Staat, Kirche und Religion”)

Im Zentrum der liberalen Philosophie steht das Individuum, dem größtmögliche Freiheit gegeben werden soll. Die individuelle Freiheit ist nach liberaler Überzeugung die Grundnorm einer menschlichen Gesellschaft, auf die hin der Staat und seine politische wie wirtschaftliche Ordnung auszurichten seien. Wo die Freiheit des Einzelnen berührt wird, habe jede, auch die staatliche Gewalt zu enden – der Staat habe nur dann einzugreifen, wenn die Freiheit der Individuen verletzt wird. Die Rolle des Staates habe sich vorrangig auf den Erhalt von Recht und Freiheit zu beschränken. Regulationen sollten minimiert werden. Dem Einzelnen solle durch sein Mehr an Freiheit auch mehr Verantwortung für sich selbst übertragen werden. Verantwortlichkeit aus der Freiheit heraus - das ist die Grundlage freimaurerischen Handelns.

Der Liberalismus steht in seiner Theorie im Gegensatz zum Totalitarismus und gilt vielerorts als Voraussetzung, wenn nicht gar als Synonym für die Auffassung einer modernen pluralistischen Demokratie. Bis in die Gegenwart betrachten sich auch Vertreter von nicht explizit liberalen Parteien als Liberale im Sinne der aufklärerischen philosophischen Definition des Liberalismus.

Zentrale politische Forderung des Liberalismus ist die nach Grundrechten als institutionalisierter Form der Menschenrechte. Diese sind vom Staat zu garantieren und haben Vorrang auch vor demokratisch (also mehrheitlich) herbei geführten Entscheidungen (siehe auch Rechtsstaat, Minderheitenschutz).

Als ein wichtiger Begründer des Liberalismus gilt JOHN LOCKE. Die Liste der berühmten Liberalen bei WIKIPEDIA liest sich wie ein Auszug aus den Registern der Freimaurerlogen. Nicht zuletzt Voltaire mit seinem Ausspruch „Ich bin nicht Eurer Meinung, aber ich werde darum kämpfen, dass Ihr Euch ausdrücken könnt“ verteidigte das liberale Prinzip der Toleranz und der Meinungsfreiheit.

JOHN STUART MILL formulierte in seiner bekanntesten Schrift „On Liberty” („Über die Freiheit“):„Der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist, ist, sich selbst zu schützen. Der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf, ist die Schädigung anderer zu verhüten.“

Liberal ist daher ein politisch geprägter bzw. die Politik prägender Begriff.

„Es ist nicht alles politisch in der Gesellschaft. Aber (fast) alles kann politisch relevant werden, wenn es mit einem der gesellschaftlichen Prinzipien verbunden werden kann. Organisierte Interessen von Großverbänden – Gewerkschaften, Industrieverbänden oder Kirchen – sind immer politisch, weil sie in einem direkten Austauschverhältnis mit der institutionellen, normativen und prozessualen Dimension der Politik stehen.“[1]

Sowohl der Faschismus (und Nationalsozialismus) als auch der Kommunismus bekämpften den politischen Liberalismus als einen ihrer Hauptfeinde.

Freimaurern kommt das bekannt vor.  Was ist nun also liberale Freimaurerei?

Wenn man, was manchmal geschieht, mit dem Begriff „Liberale Freimaurerei” alles zusammenfasst, was „Nicht von der Vereinigten Großloge von England anerkannt“ ist, wenn man also die „Liberale Freimaurerei“ quasi als nicht regulär bezeichnet, so hat man auf dieser Welt Gruppierungen dabei, die mit dem Begriff „liberal” nichts zu tun haben. Obödienzen etwa, die nach Eigendefinition Orden sind, wie ein solcher streng und ausgeprägt hierarchisch aufgebaut sind, Spitzenfunktionäre auf Lebenszeit zulassen, etc.

Hierarchische, exklusive Systeme sind naturgemäß wesentlich besser überschaubar, leichter regierbar, klarer beherrschbar. Aber ist Herrschen (abgesehen vom „Beherrschen des Selbst”) überhaupt ein grundlegend freimaurerisches Anliegen?

Drehen wir den Ansatz um: Wie definiert sich die „Liberale Freimaurerei“ denn selbst? Ich muss dazu nicht weit weggehen aus unserem Umfeld. Einer der Grundlagentexte des GROSSORIENTS von ÖSTERREICH ist dazu hervorragend geeignet: „Freimaurerei heute” von 1984.

Freimaurerei ist nicht erschöpfend zu definieren, ihr Grundkonsens muss zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten aktuell und gesellschaftsbezogen interpretiert und gelebt werden: man kann als Grundkonsens der Freimaurerei das Streben nach Mündigkeit des Menschen und nach Toleranz bezeichnen.

Freimaurerei wird nicht ausgeübt bloß durch Betrachtung der Vergangenheit, sie erschöpft sich auch nicht im Ritual und ist unvereinbar mit dem Rückzug in den elfenbeinernen Turm: sie ist ununterbrochenes Suchen nach neuen Aufgaben und untrennbar verbunden mit dem Versuch, Antworten zu finden: denn nur was sich bewegt, ist lebendig.

Die ganze Breite der Interpretationsmöglichkeiten des Grundkonsenses schließt die einzelnen, sehr differenzierten Glieder der freimaurerischen Kette zusammen. Freimaurerische Arbeit wird in den Logen geleistet, die als Kleingruppen und Gesprächsgemeinschaften sich mit den Problemen der Zeit auseinandersetzen.

Die Logen sind im Rahmen des Grundkonsenses autonom. In der Regel kann nur der Einzelne oder die kreative Kleingruppe nach außen hin im freimaurerischen Sinn wirken. Die Loge gibt als Ort vorbehaltloser geistiger Auseinandersetzung und emotionaler Aufrichtigkeit die Möglichkeit für theoretische und praktische Erprobung der Ideen und unterstützt den Einzelnen bei seiner Arbeit.

Konstruktive Kritik und Selbstkritik sind die Grundlagen für jede freimaurerische Arbeit, sie umfassen alle Bereiche unserer erkennbaren Innen- und Außenwelt – auch den einzelnen Freimaurer selbst. Nur so können wir uns von inneren und äußeren Zwängen befreien. In die Loge sollen jedenfalls nur Menschen aufgenommen werden, die fähig und bereit sind, am Gespräch teilzunehmen, eigenes Denken und Handeln in Frage zu stellen und Vorurteile als solche zu erkennen und zu überwinden.

Die Grundsätze der Freimaurerei sollten kein einengender Rahmen, sondern eine tragfähige Basis für alle möglichen Entwicklungen sein. Verantwortung gibt es nur gegenüber Menschen und nicht gegenüber Instanzen.

Erkenne dich selbst – Beherrsche dich selbst – Veredle dich selbst

Freimaurerei muss immer zuerst Arbeit an sich selbst sein und zwar mit dem Ziel, zu ergründen: „Was muss man sein, um ein Mensch zu sein?““

Bei gleichem Ursprung und ähnlich langer Tradition verlangt die „angelsächsische” Richtung der Freimaurerei ein Glaubensbekenntnis an einen persönlichen Gott. Die Franzosen empfinden das als dogmatisch und statisch. Liberale Freimaurer überall können sich dieser Einschätzung anschließen. Der GROSSORIENT von FRANKREICH hat sich seit 1877 (als unmittelbare Folge von Postulaten wie dem Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes) zur absoluten Glaubens- und Gewissensfreiheit verpflichtet und bekennt sich ohne jegliche Einschränkung zur adogmatischen, liberalen und humanitären Freimaurerei und garantiert dies (wörtlich) in seinen Statuten.

Unter dem Dach der Toleranz sollte es uns allen möglich sein, friedlich miteinander zu leben, zusammen zu arbeiten und uns gemeinsam den Anforderungen unserer Zeit zu stellen.

Der Liberalismus stand auch an der Wiege der Formulierung der Menschenrechte:

 „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“[2]

In den Artikeln 18 bis 20 lesen wir von jedes Menschen Gewissensfreiheit und Ritualfreiheit, Freiheit zur Suche und zum Empfang von Informationen, Versammlungsfreiheit zu friedlichen Zwecken und in Art. 30 vom Verbot von Akten, die auf eine Vernichtung vorgenannter Rechte und Freiheiten abzielen.

Die Gewissensfreiheit ist immanent ein Grundprinzip der Freimaurerei. Nur dort, wo dieses Prinzip befolgt wurde, war die Freimaurerei ein Faktor der intellektuellen, moralischen und geistigen Bereicherung der Menschheit. Nur auf diesem Prinzip können die Freimaurer, die sich der ständigen Evolution der Zeiten bewusst sind, der Weltbruderkette näherkommen.

Wie war das doch gleich am Anfang?

Der Liberalismus begründete die Emanzipation von überlieferten Dogmen, welche Unfreiheit rechtfertigen sollten. Liberalismus, Aufklärung und Freimaurerei sind also sehr nahe Verwandte (um der Diskussion über Henne und Ei auszuweichen). Nach KANT ist die Aufklärung der Ausgang der Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit muss nicht definiert werden, selbst verschuldet, weil die Bequemlichkeit dahintersteckt, sich nicht seines eigenen Verstandes zu bedienen, um alles zu hinterfragen.

Freimaurerei muss immer zuerst Arbeit an sich selbst sein und zwar mit dem Ziel, zu ergründen: „Was muss man sein, um ein Mensch zu sein?“

Daher ist auch die Parole der Aufklärung „Aude sapere” Wahlspruch oder gar Name so mancher Loge.

Fast ein Schlusssatz: Die Grundidee der Freimaurerei war liberal. Folglich ist liberale Freimaurerei kein Oxymoron. Der Widerspruch steckt in dogmatischen Festschreibungen, die formal und inhaltlich der Grundidee der Freimaurerei widersprechen.

Freimaurerei soll vereinen, was getrennt ist, und als eine Schule der Menschlichkeit den Menschen zu Mündigkeit und Verantwortung erziehen.

Wenn man Worte in ihrer tiefen Bedeutung verwendet, dann ist Freimaurerei – will man denn eine rhetorische Fremdwortbezeichnung dafür – ein Pleonasmus.

Das ist der Grund, warum wir im GROSSORIENT von ÖSTERREICH langsam von der Bezeichnung „Liberale Freimaurerei” zu einem anderen, den Kern unseres Wesens besser charakterisierenden und nach Möglichkeit politisch unbelasteten Terminus übergegangen sind: und da ein solcher, der nicht wieder der Kritik ausgesetzt werden kann, offensichtlich schwer zu finden ist, tun wir das, was wir in der maurerischen Symbolik gelernt haben: wir verschränken mehrere Symbole bzw. Begriffe miteinander, sodass eine neue Entität entsteht:

Der GROSSORIENT von ÖSTERREICH versteht sich als adogmatisch, liberal und pluralistisch:.

Adogmatisch wie auch die übrigen, weltweit in CLIPSAS zusammengeschlossenen Obödienzen, die den APPELL von STRASSBURG unterzeichnet haben.

Liberal, um den ihn bildenden Logen den größtmöglichen Entfaltungsraum zu bieten.

Pluralistisch auch bezüglich der maurerischen Rituale und der Möglichkeiten, als Menschen, Frauen wie Männer, miteinander in den Logen zu arbeiten.

Sr.·. Renate H., Alt-GM, Loge „Sapientia Cordis“


[1] Der deutsche Politologe U. v. Alemann, 1989 

[2] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen (1948), Art.1, zit. nach Rechtsanwalt Heinz Strack: „Theorie des Rechtsstaate“, Bauhütten-Verlag, Hamburg 1970, S. 233